PLAUN LA GREINA
DIE LETZTE HOCHEBENE DER SCHWEIZ

© L.A.W.V.VIA-VIA
Aquatinta von Architekt Brian Cyrill Thurston



Beim Wandern durch die weite Greinaebene erleben Wanderer und Bergsteiger einzigartige Eindrücke. Stille umgibt sie, und sie machen Bekanntschaft mit einer äusserst vielfältigen Natur, die nicht nur hier, sondern im Grenzgebiet des Kantons Graubünden und Kantons Tessin einzigartig ist.

Die grossen Weiten, die gegen den Himmel ragenden Gipfel, die verschiedenen Farben der Berghänge und die tiefe Stille machen das Greinagebiet für jeden Bergfreund unvergesslich. Was hier vorgeschlagen wird, ist ein Aufenthalt von zwei oder mehr Tagen in dieser Tundra.

DAS BESONDERE DER GREINA

Das Greinagebiet ist eine Hochebene, die ungefähr sechs Kilometer lang und einen Kilometer breit ist und sich in drei Richtungen erstreckt: nach Osten gegen den Plaun Ia Greina, nach Süden gegen die Motterascioalp und nach Westen gegen die Greinaebene (LK 1:25 000,
1233 Greina). Ihre Biotopenvielfalt ist aussergewöhnlich und einzigartig. Aus diesem Grund wurde die Greinaebene als Schutzzone ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenk- mäler der Schweiz von nationaler Bedeutung aufgenommen. Sie ist ein eigentliches Paradies für Bergliebhaber. In einem seiner Werke beschreibt sie der Tessiner Wissenschaftler Plinio Grossi als «geologisches Museum, botanischen Garten, Berginsel, Wunderkorridor und Überraschungsschaufenster».

DIE TOUR

ALLGEMEINE ANGABEN

Die Tour, die durch diese Naturwunder führt, beginnt und endet in Ghirone (1303 m) im Bleniotal und ist über die gesamte Strecke rot-weiss markiert. Die Strecke ist in zwei Tagen begehbar und führt an der Scalettahütte (im Besitz der SAT Lucomagno di Olivone) und der Motterascio- hütte (SAC Ticino) vorbei. Die Tour verläuft grösstenteils flach und gefahrlos. Sie ist auch für Familien und Schulklassen geeignet.

ERSTER TAG

Von Ghirone-Cozzera aus folgen wir dem markierten Weg, der sich durch das wilde und rauhe Camadratal schlängelt, das auch von einem befahrbaren Strässchen durchquert wird. Nachdem wir Plan Geirètt (auf ca. 2000 m) erreicht haben, richten wir den Blick auf das uns umgebende imposante Amphitheater der Berge - unter ihnen der Piz Medel (3211 m) - und sehen bereits jetzt auf einer Terrasse die Scalettahütte. Wir erreichen sie auf dem rot-weiss markierten Weg in einer knappen Marschstunde. Von der Hütte (2205 m) aus, die am Tor zum Greinapass liegt, bietet sich ein phantastisches und wildes Panorama. Oft trifft man, vor allem in der Umgebung der Hütte oder auf den dahinterliegenden Hängen, Gruppen von friedlichen Steinböcken. Das Jagdverbot in der Greina wurde vom Bund 1946 erlassen, und im Jahr 1963 wurden die ersten Steinböcke angesiedelt. Heute sind es ungefähr 400 Tiere. Die Scalettahütte, in ihrer Dreiecksform unverwechselbar, ist das ganze Jahr geöffnet. Hier verbringen wir die erste Nacht.

ZWEITER TAG

Endpunkt der zweiten Etappe ist die Motterasciohütte (oder Michela), die wir in zwei Weg- stunden erreichen. Wir verlassen die Scalettahütte und folgen dem Weg, der uns zum Greina- pass (2357 m) bringt und der am Fuss des Piz Coroi (2785 m) eine Zone von schwarzen Schieferfelsen durchquert. Bevor wir den Pass erreichen, ist es lohnend, einen kurzen Umweg zu machen. Er führt uns zu einem der Naturwunder der Greina: einem phantastischen, ungefähr vierzig Meter langen Natursteinbogen. Um dieses Wunder entdecken zu können, verlassen wir den Weg und steigen zum Wasserlauf hinab, der sich seinen Weg durch das Tälchen gräbt. Nachdem wir den markierten Weg wieder erreicht haben, gehen wir weiter in Richtung Pass und durchqueren anschliessend ein geologisch eindrucksvolles Gebiet mit unzähligen aus dem Boden ragenden weissen Dolomiten, ähnlich einem canyon. Allmählich öffnet sich vor unsern Augen die stille und unberührte Weite der Greinaebene. Es ist ein erhabenes Gefühl - rundherum nur Natur: kein Haus, kein Mäuerchen. Weit und breit kein Eingriff durch die menschliche Hand.

Angelo Valsecchi beschreibt in seiner neusten Publikation die Greina als «unsere Tundra». Auf einem riesengrossen Felsblock im Zentrum der Ebene steht ein Kreuz aus ge-schmiedetem Eisen. Es ist Crap Ia Crusch, der Stein des Kreuzes, das einzige Zeichen menschlichen Wirkens in dieser Weite. Ein Zeichen, das Erde und Himmel verbindet, ein Mahnmal zum Schutz und zur Achtung dieses Reichtums der unberührten Natur.

Nachdem wir Crap Ia Crusch hinter uns gelassen haben, folgen wir einem flachen Weg, der an faszinierenden Moorlandschaften vorbeiführt. Nach anderthalb Stunden erreichen wir die Motterasciohütte; sie wird vom Piz Terri (3149 m) überragt. Weiter unten sehen wir den Luzzonesee (1630 m). Dort angekommen, folgen wir dem Seeufer, überqueren den Staudamm, steigen in Waldlichtungen ab und erreichen wieder Ghirone.

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DIE WEIDEN DER GREINA

In der Vergangenheit war die Greina ein wichtiger Punkt zwischen dem Bleniotal und dem Bündnerland (Vrin). Als Alpenpass war der Greinaweg schon 20 nach Christus bekannt. Zwischen den Bewohnern von Vrin und denen des Bleniotals fand zwischen 1315 und 1930 eine endlose Auseinandersetzung statt, die, was den Besitz der weiten Greinaebene angeht, in Urteilen des Bundesgerichts gipfelte. Sie befindet sich in der Tat jenseits der Tessiner Kantonsgrenze auf Bündner Gebiet, auf dem Boden von Vrin. Heute ist sie ausschliesslich Eigentum der Burgergemeinde von Aquila-Torre und Lottigna, die damit Gebietsbesitzerin ausserhalb der Tessiner Kantonsgrenzen ist. Ein Zeichen der Bedeutung dieses Gebiets für die Sömmerung: Früher besass die Burgergemeinde zwei weitere grosse Bündner Alpen: die Alp Biengias, die in Bündner Besitz zurückgelangte (man weiss nicht wie), und die Alp Scharboden, die von den Bewohnern des Bleniotals 1917 verkauft wurde. Die Motterascioalp wird immer noch bestossen, und seit vielen Jahren wird hier ein rezenter und beliebter Käse hergestellt. Ein Alpbesuch wird vom Käser sehr geschätzt. Andere Weiden finden wir im Camadratal.

DER STAUSEE, DER NICHT BEWILLIGT WURDE

Die Greinaregion ist eine ausserordentlich schöne, eigenwillige, ruhige und wenig bekannte alpine Welt. In den sechziger Jahren lief sie jedoch Gefahr, schwer beeinträchtigt zu werden. Damals erforderte die Verteuerung des in den Kernkraftwerken produzierten elektrischen Stroms den Bau von neuen Wasserkraftwerken. Angelo Valsecchi schreibt, dass in dieser Zeit die Anliegen des Umweltschutzes weitgehend verdrängt wurden. Man wollte diese Insel des Friedens in einem grossen Staubecken «ertränken». Die Ingenieure des Projekts wolIten die Wasserreserven des Somvixer Rheins ausnützen und ein grosses Auffangbecken auf der Greinahochebene bauen. Anhänger anderer «gewissenloser Vorschläge» - so Valsecchi - wollten dieses Gebiet in einen Schiessplatz oder in einen Kurort umwandeln. Der bedeutendste Kämpfer für den Schutz dieses wunderbaren Gebiets war der Architekt Brian Cyrill Thurston. An dem mit Erfolg geführten Kampf zur Rettung dieser aussergewöhnlichen Hochebene nahm auch die Tessiner Sektion des Schweizerischen Bundes für Naturschutz teil. Kürzlich erging die Meldung, dass der Verzicht auf das Projekt den Gemeinden von Somvix und Vrin während vierzig Jahren jährlich 360.000 Franken als Schadenersatz einbringt.

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DIE GREINA UND IHRE GIPFEL

Faszinierende Gipfelbesteigungen sind möglich, wenn noch eine oder zwei zusätzliche Nächte in der Scalettahütte oder der Motterasciohütte verbracht werden. Hier seien einige erwähnt, die ihren Ausgangspunkt bei der Scalettahütte haben: Piz Medel (3210 m), erreichbar in dreieinhalb Stunden; Piz Valdraus (nördlichster Punkt des Kantons Tessin, 3096 m), zweieinhalb Stunden; Piz Gaglianera (3120 m), zweieinhalb Stunden; Piz Vial (3168 m), dreieinhalb Stunden; Piz Coroi (2785 m), eine Stunde und 45 Minuten; Piz Marumo (2790 m), zwei stunden; Piz Terri (3149 m), viereinhalb Stunden; Camadragipfel (3172 m), vier Stunden.

Die Besteigungen sind auch möglich, wenn man von der Motterasciohütte startet. Eine Besteigung des Piz Medel und seines Gletschers, des steilen Piz Terri oder des Piz Coroi wird zum unvergesslichen Erlebnis.

HINWEISE

ZEITPUNKT:

Die Tour wird vom Spätfrühling bis Mitte Herbst empfohlen. Im Herbst sind die Farben (Berge, Felsen, Wiesen, Tundra) besonders leuchtend und eindrucksvoll.

ANFORDERUNGEN:

Die beschriebene Route stellt keine besonderen Anforderungen (sie ist auch für Kinder begehbar, wenn sie gut trainiert sind). Die Besteigungen hingegen verlangen gute Kenntnisse. Sie sind oft nicht signalisiert und markiert. (Nähere Angaben im clubführer Tessiner Alpen 3 von Giuseppe Brenna.)

ANREISE:

Bis Biasca mit dem Zug, dann bis Ghirone mit dem Postauto der Linie des Bleniotals (Autolinee Bleniesi). Dieselben Transportmittel auch für den Rückweg.

HÜTTEN:

SCALETTAHÜTTE:

Das ganze Jahr geöffnet, mit 40 Schlafgelegenheiten und warmer Küche. Im Winter steht das nahe Refugium mit 16 Schlafgelegenheiten zur Verfügung.
Hüttenwart: Ivan Buch,Tel. 091/8722628
Besitz des SAT Lucomagno
Postfach 175
6718 Olivone/Tessin

MOTTERASCIOHÜTTE:

Das ganze Jahr geöffnet (im Winter ist das Winterlokal benutzbar), 70 Schlafgelegenheiten, warme Küche.
Hüttenwartin: Elena Mercoli, Tel. 091/8721622
Besitz der SAC-Sektion Ticino

KARTEN UND FÜHRER:

- SLK 1:25000, Blatt 1233 Greina
- Clubführer Tessiner Alpen 3
- Vom Sankt Gotthard zum Pizzo di Claro, Giuseppe Brenna, 1997
- Valsecchi, Angelo: Die Greina, unsere Tundra. Hrsg. SAC-Sektion Ticino, Lugano 1997





Lange Afstand Wandelvereniging "VIA-VIA".

Gegenereerd op 01-08-2000 door C.P.J. Aerssens